"Corona"-Fahrrad-Boom vor allem bei Frauen - und die verkehrspolitischen Konsequenzen

Corona verstärkt den anhaltenden Fahrradboom. Der erste Lockdown boostete den Radverkehr und lockte vor allem mehr Frauen auf das Rad. Die Politik wird nun noch mehr als Popup-Radwege bieten müssen.

Nach dem Schock des ersten Lockdowns setzte in 2020 ein überdurchschnittlicher Ansturm auf das Fahrrad ein, denn in Folge der Corona-Krise ist die gesunde Fortbewegung wichtiger geworden. Das belegt eine Datenerhebung von Strava: rund um den zweiten Lockdown hat die Sport-Plattform erneut Spannendes aus dem Datenpool zu melden. Nahmen im November beim Lockdown Light im Vergleich zum Vorjahresmonats die aufgezeichneten Trips um 50% in Frankfurt, 72% in Hamburg und 100% in Stuttgart zu, brachte auch die Verschärfung des Lockdowns rund um den 16. Dezember einen erneuten, kräftigen Zuwachs gegenüber der Vorjahreswoche kW 50 mit sich: 15% Zuwachs in München, 58% in Berlin und 71% in Köln.

Gleichzeitig ist das Rad der neue Freizeit-, Sport- und Bewegungsersatz, da Fitnessstudios geschlossen und Vereinssport heruntergefahren wurde (Quelle: Bundesverkehrsministerium). Viele, die sonst Bus und Bahn fahren, sorgen sich zudem vor der Ansteckungsgefahr im ÖPNV und wählen das Fahrrad, sofern es sich um kürzere Strecken handelt. Ob die Sorge über eine Ansteckung auch den Tatsachen entspricht, ist da nebensächlich. Schon die räumliche Nähe und das Starren in fremde Gesichter hält den einen oder die andere davon ab, den Bus oder die Bahn zu nehmen. Dieses Gefühl wird wohl noch anhalten.

Radfahren attraktiver machen und insbesondere mehr Frauen aufs Rad locken

In 2020 waren laut Strava rund 90% mehr Frauen, fast eine Verdopplung, und 50% mehr Männer mit dem Rad unterwegs. Das verwundert nicht, denn die Alltagsmobilität der Geschlechter ist nicht die Gleiche. Während Männer eher zur Arbeit oder zum Sport unterwegs sind, gehören bei den Frauen häufig noch die Wege in die Kita, zum Einkaufen oder die Nachmittags-Sozial-Kontakte dazu - eine Verdopplung der aufgezeichneten Trips ist die logische Folge davon.

Als Ergebnis einer gut durchdachten Radverkehrspolitik fahren in Holland deutlich mehr Frauen mit dem Rad. In Deutschland war es bisher umgekehrt. Frauen möchten sicher von A nach B kommen und haben dafür einen siebten Sinn. Folgendes können Verkehrsplaner*innen für die gefühlte Sicherheit der Radfahrenden tun:

  • Zwei Meter breite geschützte und sichere Radwege - für genügend Platz für das sichere Überholen, Nebeneinander Herfahren und Unterhalten
  • Sichere Kreuzungsdesigns, die den Blickwinkel von Lkw- und Pkw-Fahrern besser auf den Radverkehr lenken sowie gestaffelte Grünphasen
  • Bekannte Angst- und Engpassstellen beseitigen, denn genau dort fehlt oft der sichere Radweg
  • Standardmaßnahmen wie z.B. prioritäre Radwegräumung von Laub und Schnee und abgesicherte Baustellenumfahrungen
  • Sichere “Kurzstrecken” in den Kiezen für die typischen Einkaufs- und Bringe-Wege.

Diese fünf wichtigsten Maßnahmen sind ausführlich beschrieben in meinem Buch Der Berlin-Standard - moderne Radverkehrspolitik Made in Germany. Ergänzend erläutere ich das Gespür für Gefahren, warum Frauen der beste Indikator für eine gute und sichere Radwege sind und mit welchen einfachen Kniffs und Tricks sich noch mehr Frauen aufs Rad locken lassen. Wer mehr Radverkehr will, muss einfach nur herausfinden, was Frauen wollen. Denn im Kern geht es immer wieder darum, Stück für Stück Flächen für den Radverkehr umzuwidmen, um genügend Platz für sichere Kreuzungen und Radwege zu haben. Radfahrer*innen benötigen deutlich weniger Platz und kaum Parkplätze: ein Konzept, bei dem allen geholfen wäre: weniger Staus, mehr Parkplätze und glückliche Radfahrer*innen. Die Pop Up-Radweg-Offensive muss nun richtig angeschoben werden, aus Corona- wie aus Klima-Gründen.

Popup-Radwege signalisieren Aufbruch, den es nun zu verstärken gilt

In Deutschland war 2020 eine Aufbruchsstimmung zu spüren: In vielen Städten wurden vereinzelt Projekte umgesetzt, insbesondere Pop Up-Radwege, um mehr Platz für Radfahrende zu schaffen. Die Berichterstattung darüber entwickelte eine gewisse Dynamik, auch wenn davon auf den Straßen nur vereinzelt etwas zu spüren war. In Berlin bei 5.000 km Straßen waren es beispielsweise 22 km, die ein positives Gefühl hinterließen, aber immer nur auf kurzen Strecken. 70% der Befragten begrüßen diese neuen Radwege, 38% würden mehr Radfahren, wenn es mehr Popup-Radwege gäbe – so hat es das Verkehrsministerium ermittelt.

Der Blick auf die neue Saison ist vielversprechend

Für 2021 überbieten sich die Prognosen: laut Verkehrsministeriums wollen 18 % der Befragten das Fahrrad nach der Pandemie häufiger nutzen. Die Unternehmensberatung PWC hat ermittelt, dass 27% der Befragten ihr Rad häufiger für Freizeitaktivitäten, Erledigungen und Einkäufe und 32% für den Weg zur Arbeit und Ausbildung nutzen wollen – und das ohne einen einzigen neuen Radweg.

Der Fahrradhandel kann also weiter mit guten Geschäften rechnen. Um 9% ist der Absatz allein im ersten Halbjahr 2020 gegenüber dem Vorjahreshalbjahr laut Branchenverband ZIV gewachsen, obwohl die Geschäfte für etliche Wochen geschlossen blieben. Wer denkt, dass Corona ein Eintagsfliege sei, der täuscht. Bereits in 2019 gehörte die Fahrradbranche zu der wachstumsstärksten Einzelhandelsbereichen und hat laut Einzelhandelsverband die 10%-Marke überschritten. Man sieht es auch auf den Straßen: bunter, schneller, elektrifizierter, zunehmend mehr Fahrradstaus an den Ampeln, aber leider auch zu hohe Zahlen bei Zusammenstößen und getöteten Radfahren, obwohl deutlich weniger Autos unterwegs sind.

Spätestens wenn sich die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings 2021 zeigen, wird der Radverkehr erneut explodieren. Somit wird auch die Radverkehrspolitik stärker in den Fokus rücken - ob durch das Mobilitätsgesetz in Berlin, die zahlreichen Rad- und Klimaentscheide oder die allerorts sich gründenden Klimalisten im Super-Wahljahr 2021.

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